Von Saint-Privat-d’Allier nach Saugues

Der zweite Morgen startet für mich auf der Via Podiensis wieder sehr ungewöhnlich: mit einem Frühstück. – Nicht, dass ich nicht zu Hause ein gutes Frühstück zu schätzen wüsste. Auf spanischen Wegen habe ich Frühstücksangebote jedoch meistens ausgeschlagen, sofern sie nicht um halb sechs Uhr morgens angeboten wurden. Die Hitze trieb mich eben einfach immer frühzeitig auf den Weg. Heute laufe ich nicht Gefahr, in der Sonne zu schmachten. Bestimmt nicht.

Herbergswirt Jean Charles hat ein für französische Verhältnisse ungewöhnlich umfangreiches Frühstücksbuffet aufgebaut: Es gibt nicht nur Bauernbrot mit Marmelade, sondern sogar etwas Müsli, Käse, Wurst und Eier. Außer mir frühstücken hier heute noch zwei junge Männer. Ich kann nicht hören, was für Landsleute sie sind; dafür sind sie zu weit weg. Was ich aber wahrnehme, ist der fürsorgliche und freundliche Umgang miteinander. Einer der beiden hat beide Unterarme amputiert. Der andere zieht ihm, bevor sie losgehen, den Reißverschluss seiner Jacke zu. Es wirkt wie eine für beide ganz selbstverständliche Handreichung, beschämend allenfalls für mich, die ich mir so häufig für mein vermeintliches Unvermögen nicht gut bin.

Schließlich mache ich mich selbst auf den Weg. Es ist neblig an diesem Morgen, man sieht nicht einmal die Kirche drüben über der Schlucht. Ich quäle mich an diesem zweiten Morgen meiner Pilgerreise im schwülen Dunst hinauf bis nach Rochegude, einem kleinen Weiler, in dem ein markanter Bergfried über der Allier-Schlucht die Zeit überstanden hat. Ab und an kreuzen die drei Bretonen Christine, Geneviève und Richard meinen Weg. Dicht hintereinander schlittern wir den steilen glitschigen Weg nach Pratclaux hinunter: 250 Höhenmeter auf einen Kilometer Strecke. Zwischendurch bin ich gezwungen, die Hände zur Hilfe zu nehmen. Mir steht der Schweiß auf der Stirn, nicht nur wegen der Schwüle.

Froh, wieder befestigte Wege unter den Füßen zu haben, setze ich meinen Weg fort. Es geht weiter steil bergab. Der Ort Monistrol d’Allier liegt eingekesselt zwischen Granitfelsen, das Ortsbild wird beherrscht von einer Wasserkraftanlage der EDF. Die Stahlbrücke über den Allier hat kein geringerer gebaut als Gustave Eiffel. Und wer es ahnt, dem sei bestätigt: Sobald man die Brücke überschritten hat, folgt auch schon wieder ein steiler Anstieg über fünfhundert Höhenmeter auf das Hochland der Margeride.

Als ich die Höhe erreicht habe, reißt dann auch endlich der Himmel auf und gibt den Blick frei in die Weite des grünen Hochlandes unter klarem Himmel. Ich brauche dringend eine Pause und auch etwas Süßes. In meinem Rucksack habe ich noch drei Riegel, die ich von zu Hause mitgebracht habe. Genau das Richtige, so ein kleiner Zuckerschub. Eine Sitzgelegenheit ist auch nicht weit. Der Weg bietet überhaupt jede Menge Picknickplätze mit oftmals überdachten Bänken, Wasserstelle und sogar Toilettenhäuschen. Ein Pilger mit seinem Hund hat es sich dort schon gemütlich gemacht und rückt bereitwillig zur Seite. Franck ist sehr gesprächig, sein Hund Raffia hat sich müde unter der Bank zusammengerollt. Wir unterhalten uns eine Weile über die Motive – religiöse und nicht religiöse – diesen Weg zu gehen. So ist das auf dem Weg. Man kennt sich kaum und ist sofort mittendrin in einem Gespräch über ganz intime Themen.

Mir sitzt das viele Auf und Ab des Tages gewaltig in den Knochen, aber das Gespräch mit Franck hat meine Lebensgeister zurückgebracht. Die letzten fünf Kilometer fühle ich mich beflügelt, auch wegen des wunderschönen Weitblicks in die Margeride. Endlich kommen die Holzskulpturen des Künstlers Jean-Pierre Coniasse in Sicht. Etwas abseits vom Weg schaut die in Holz verewigte Bestie von Gevaudan grimmig ins Tal nach Saugues hinunter. In dieser Gegend soll vor 250 Jahren eine wolfsähnliche Bestie ihr Unwesen getrieben haben. Mehr als einhundert Kinder und Frauen hat sie angeblich gemordet und zerfleischt. Warum nur Frauen und Kinder die Opfer waren, ist nicht bekannt. Und auch nicht, ob es tatsächlich ein Wolf war. Fest steht wohl nur, dass im Jahr 1767 ein großes Tier erschossen wurde und die Morde anschließend ein Ende hatten. Auf das Ungeheuer trifft man in dieser Gegend noch häufig. In Saugues gibt es ein ganzes Museum, das der Bestie gewidmet ist. Riesige weiße Wolfstatzen auf dem Pflaster weisen den Weg dorthin.

Saugues ist ein belebtes Dorf mit knapp über 2.000 Einwohnern. Es gibt eine funktionierende Infrastruktur aus Lebensmittelgeschäften, Bars und sogar einen ganz gut sortierten Outdoor-Ausrüster. Ich komme für heute im Accueil Randonneurs La Margeride unter. Eine große Unterkunft mit Jugendherbergscharakter. Es gibt einen großen Speisesaal, eine Küche, Terrasse, eine riesige Wiese hinterm Haus. Die Anlage ist sauber und zweckmäßig. Ich bin die erste im Viererzimmer und habe freie Bettenwahl. Was mich sehr freut: Auch hier gibt es ausschließlich Einzelbetten.

In der Bar mit Restaurant Le Petit Chez Soi bekomme ich auf Nachfrage nach einem kleinen vegetarischen Gericht ein Omelett mit Salat zubereitet. Ich vermute mal, es ist Wirtin Isabelle persönlich, die hier kocht, denn sie ist eine ganze Weile in der Küche verschwunden. Nette Gesellschaft habe ich auch von Sandrine und Ludovic, die hier für einen Aperitif einkehren. Am Nebentisch sitzt meine neue bretonische Bekanntschaft, Geneviève, Christine und Richard. Sie bedanken sich für das schöne Foto, das ich am Morgen in Rochegude von ihnen gemacht hätte. „Wir sind viel schöner als sonst“ beteuern sie einhellig. Ich bin mit Isabelle der Ansicht, dass sie alle drei eben einfach schön sind.

Aber ich weiß, was sie meinen: Es braucht eigentlich nur ein bisschen frische Luft, Draußensein, Atmen und Losgehen, um ein neuer Mensch zu werden.

2 Kommentare

  1. Guten Abend, Deine Pilgerberichte berühren mich und lassen Erinnerungen an die wundervolle Landschaft der Via Podiensis lebendig werden. Wir sind die Strecke vor 4 Jahren gelaufen. In Saugues waren wir in der gleichen Herberge, völlig durchnässt von einem heftigen Unwetter mit Hagel. Alles Gute für Deinen Weg

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