Die erste Nacht in einer Gemeinschaftsunterkunft ist meistens ein wenig unruhig. Aber in der Regel kann ich das – ein dreifach Hoch auf Ohropax! – ganz gut ausblenden. Um 6:30 Uhr gibt’s Frühstück. Bis dahin ist mein Rucksack fix und fertig gepackt. Die freiwilligen Helferinnenhände haben die Tische bereits eingedeckt. Marie José wärmt mir eigens die Milch für meinen ersten Morgenkaffee in einem Bol. Um 7:00 Uhr beginnt die Messe in der Kathedrale mit Pilgersegen. Das möchte ich mir nicht entgehen lassen. Um ehrlich zu sein: Es geht mir ganz besonders um den spektakulären Auszug aus der Kathedrale.
Um Punkt 8:00 Uhr wird endlich das Gitter des Mittelgangs elektrisch aufgerichtet und gibt den Weg zur Treppe frei, die durch den langen Treppenabgang direkt hinunter führt zur Rue des Tables. „L’église accouche les pèlerins“ raunt mir der Franzose neben mir zu. Die Kirche gebärt ihre Pilger. Ich fühle mich wohler mit dem Gedanken eines aktiven Geburtsvorgangs, aber ich behalte es lieber für mich.
Es nieselt an diesem Morgen, aber es reicht nicht für den Poncho. Ohnehin geht es nach kurzer Zeit steil den Berg hinauf. In Nullkommanix steht mir der Schweiß auf der Stirn. Oben auf dem Plateau gönne ich mir einen Blick zurück auf die Wahrzeichen der Stadt: auf die weithin sichtbare Marienstatue und die Chapelle St.-Michel-d’Aiguilhe auf der Basaltnadel. Dann versuche mich auf den Weg zu konzentrieren. Es sind angenehme Trampelpfade, ein wenig zu glitschig vielleicht. Es ist feucht und schwül.
Nach zwei Stunden habe ich den Weiler Saint-Christophe-sur-Dolaison erreicht. Vor dem Rathaus gibt es eine überdachte Bank, einen Wasserhahn und eine für uns Pilger geöffnete Toilette. Dort trifft man sich. Gegenüber hat ein kleiner Laden heute am Sonntag für uns geöffnet. Hier gibt es riesige frisch belegte Baguettes, und die besten Äpfel der Welt. Ich kaufe einen Apfel und ein gekochtes Ei, aus Deutschland habe ich noch ein belegtes Brötchen im Rucksack. Der Epiceriebesitzer hat das Ei ein wenig riskant aber scheinbar stabil auf dem Apfel platziert, während er den Betrag in die Kasse eingibt. Wir witzeln ein bisschen über seine Version des „Kolumbus-Eis“. Ich mag den feinen französischen Humor.
Nach dem Essen gehts weiter. Hinter Tallode biege ich falsch ab und nehme die Alternativroute über Bains, die mir durch die Gesellschaft des Tageswanderers Dominique aus Le-Puy und Sophie aus der Vendée verkürzt wird. Dominique arbeitet für eine Organisation (L’Atelier des Possibles), die Gründer und Mitglieder gemeinnütziger Initiativen in den Bereichen Landwirtschaft, Klima- und Umweltschutz, Kunst, Handwerk, Tourismus u.a. schult und berät und sie mit Projektträgern zusammenbringt. Das finde ich spannend. Sophie ist zum ersten Mal auf einem Pilgerweg unterwegs und will es einfach mal für eine Woche ausprobieren. Wir gehen ein gutes Stück gemeinsam, bis Dominique sich schließlich zur Umkehr nach Le-Puy verabschiedet und ich mich in dem Weiler Fay für eine Pause niederlasse. Sophie läuft inzwischen weiter.
Knapp zehn Kilometer nach dem falschen Abzweig erreiche ich schließlich Montbonnet und damit auch wieder den regulären Weg. Das bedeutet einen Umweg von etwa drei Kilometern, die sich zu meinem Tagespensum von 23 Kilometern addieren. Ich gönne mir deshalb in Montbonnet nochmal eine Pause, die sich anbietet, weil es dort ein nettes Café gibt, in dem ein gemütliches Feuer im Holzofen knistert. Das Café und Restaurant ist dem Gîte La Barbelotte angeschlossen, und hätte ich mir nicht fest vorgenommen, bis Saint-Privat-d’Allier zu gehen, würde ich glatt hierbleiben. Ich versinke entspannt in einem gemütlichen Sofa und schaue eine Weile ins Feuer, bis ich mich schließlich aufraffe, um die letzten fünf Kilometer zurückzulegen.
Nach etwas mehr als einer Stunde erhasche ich erstmals einen Blick auf das sich an die Vulkanfelsen schmiegende Saint-Privat-d’Allier. Es ist immer noch feucht, die Wolken sind ein klein wenig aufgerissen, so dass wenigstens ein Blick auf die Schlucht freigegeben ist. Das Gîte Un Escargot dans sa Coquille verfügt über eine eingerichtete, neue Küche und einen Gemeinschaftsraum. Das Dreibettzimmer muss ich mir heute mit niemandem teilen, weil sich sonst nur Paare angemeldet haben. Der Gastgeber Jean Charles bietet einen ehrlichen Service. Weil Sonntag ist und ich auch müde bin, lasse ich mich heute bekochen. Die Empfehlung hier: hausgemachte Ravioli mit Käsesauce. Das sollte man sich nicht entgehen lassen.
