Tag 38: Outeiro – Santiago de Compostella (28.06.2022)

Heute ist der große Tag. Ein ganz großer Tag auf jeden Fall für mich, die ich so oft gezweifelt habe, ob die Vía de la Plata mich am Ende nicht doch in die Knie zwingen würde. Noch kein Camino hat es mir so schwer gemacht. Wie im Traum gehe ich am Morgen die Stationen bis hierher noch einmal durch. Angefangen von meinem Laufunfall zu Hause mit einer heftigen Bänderdehnung vor vier Monaten, der beinahe das Aus für meinen Camino bedeutet hätte, über den bevorstehenden Jobwechsel, der mir meine Planung hätte durchkreuzen können. Bis hin zu den vielen Schmerzen, die mir die unendlichen Grobschotter-Geraden in der Gluthitze bereitet haben. Nie zuvor auf einem Camino habe ich jemals befürchtet, dass mein Körper mich im Stich lässt. Heute erscheint es mir wie ein Wunder, dass Santiago zum Greifen nahe ist.

Vom ersten Abend bis zum heutigen Tag hatten Gorazd und ich immer das gleiche Tempo. Anfangs war mal ich, mal er ein bisschen weiter gegangen. Auf dem Weg ist es wie im Leben: Man schaut erst einmal, mit wem man es zu tun hat und ob die Taktung stimmt, bevor man sich zusammentut. Eine Pilgerfamilie – und mag sie noch so klein sein – schenkt ein klein wenig Beständigkeit. Und vielleicht brauchte ich genau diese Beständigkeit mit diesem einen Pilgerfreund, weil ich weiß, dass mir zu Hause in Deutschland ein Abschied bevorsteht. Ein bisschen mehr Schmetterlinge. Auch wenn ich es nicht wahrhaben möchte. Es ist nicht nötig, dass ich mit Gorazd darüber spreche. Ohnehin würde es die Dinge nur komplizierter machen. Ich habe mit der anstehenden Aufgabe genug zu tun.

Ein letztes Mal teilen wir uns beim Frühstück die Tasse, die uns „zugelaufen“ ist, weil die galizische Verwaltung aus hygienischen Gründen kein Geschirr in den sonst gut ausgestatteten Herbergsküchen bereitstellt. Ein letztes Mal ein karges Frühstück unterwegs. Um zwanzig vor sieben sind wir auf dem Weg. Der Himmel ist blau, die Sonne steht am Himmel, doch wir befinden uns auf einer Anhöhe und tauchen nach wenigen hundert Metern schon ein in einen dichten galizischen Nebel. Jeder, der schon mal in Galizien war, kennt das. Der Nebel füllt die Täler aus und lässt die Höhenzüge dazwischen herausragen wie die Zacken eines schlafenden Drachen.

A propos Drachen: Während unserer Frühstückspause in Deseiro an der N-525 reißt der Nebel ein bisschen auf und gibt den Blick auf den Pico Sacro frei. Einer Legende nach soll ein dort hausender Drache den Eingang zur Hölle bewachen. Die Anwesenheit des Fabeltiers soll die Errichtung des Apostel-Grabmals dort auf dem Berg verhindert haben. Ob er dort immer noch sein Unwesen treibt …. – Nun ja, wer weiß es schon, bevor er nicht dort war?

Wir tappern indessen weiter im Nebel bis wir nach vier Stunden schließlich endlich einen ersten Blick auf die Kathedrale erhaschen. Die Plata führt über die Praza de Universidade. Beide sind wir entschlossen, die Praza de Obradoiro von Norden her zu erreichen, gehen also einmal im Bogen rechts weiträumig um die Kathedrale herum. Der Weg am Nordportal durch den Tunnel, in dem zu jeder Zeit des Tages Musikstudenten den Dudelsack spielen, ist so stark verankert als Ritual. Alles andere würde sich jetzt falsch anfühlen.

Die Freude beim Betreten der Praza de Obradoiro an diesem Morgen um halb elf ist schwer in Worte zu fassen. Die Emotionen sind überwältigend. Einmal – ach was: mehrmals – die ganze Palette rauf und runter. Stundenlang können wir uns nicht von dem Platz trennen. Und mit jedem weiteren Pilger, der ankommt, erlebe ich wieder und wieder diesen Cocktail aus Freude, Erleichterung, Befreiung und Stolz. Die Schwere des Weges fällt ab. Nichts von dem, was so schwierig schien, zählt jetzt noch. Auf einmal ist wieder alles möglich. Heute ist heute. Und was morgen sein wird: Wen kümmert es? Selbst wenn feststeht, dass die Wege sich nun trennen. Das Heute geht niemals verloren.

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