Auf jedem Camino, egal von wo man sich Santiago nähert, kommt irgendwann der Punkt, an dem es voll wird. Nach der relativen Einsamkeit der Vía de la Plata ist das Pilgeraufkommen, das die Freunde auf dem Camino Francés freilich nur belächeln würden, auch auf dem Sanabrés eine Herausforderung, mit der ich erst einmal umgehen lernen muss. Ich bin weit davon entfernt, all die Pilgerwilligen zu verfluchen, die sich nur für die letzten einhundert Kilometer auf den Weg machen. Jeder hat seinen eigenen Weg, seinen Rhythmus, sein Zeitfenster; und für manch einen scheint ein Weg von einhundert Kilometern schon eine beinahe unüberwindliche Distanz zu sein. Ja, ich kenne sogar Menschen, die regelmäßig Sport machen, und sich nicht zutrauen, mehrere Tage am Stück eine Distanz von zwanzig Kilometern zu Fuß zurückzulegen. Einmal ausprobiert, dürfte es den meisten nicht schwerfallen. Aber man muss es sich halt zutrauen.
Die Nacht in der voll belegten Herberge von Laxe war unruhig und vor allem kalt. Ich habe fast kein Auge zugetan. Am Morgen möchte ich bloß noch weg von hier. Um drei Uhr mache ich schon mal meine Morgentoilette. Ein bewährter Trick, der mich in vollen Herbergen davor bewahrt, dass ich bei nicht besonders zahlreich vorhandenen Waschplätze und Toiletten lange anstehen muss. Auf der Vía musste ich meine Methode freilich selten anwenden; wir waren sehr wenige Pilger seit Ende Mai, die oberen Betten in den meisten Schlafsälen in der Regel verwaist.
Um fünf Uhr bimmelt ein Handy laut los. Da hält mich nichts mehr. Mit einem seit siebenunddreißig Tagen geübten Griff packe ich meine Siebensachen und bin auch schon aus dem Schlafsaal verschwunden. Gorazd hat vor einigen Tagen eine Tasse organisiert, die wir uns nun beim Frühstück teilen, denn auch in der Herberge von Laxe gibt es keinerlei Geschirr. Ein schneller Kaffee, und kurze Zeit später stehe ich auch schon vor der Tür.
Ich hatte erwartet, dass es draußen wärmer ist als drinnen. Leider eine Fehleinschätzung. Bei sechs Grad muss ich alles anziehen, was ich an langen Sachen in meinem Rucksack habe.
Die ersten zweieinhalb Stunden spule ich herunter, immer der Nase nach dem Frühstück entgegen. In Silleda bekomme ich für 2,40 Euro Toast, Marmelade und einen großen Café con Leche. Gorazd holt mich ein, als ich gerade im Begriff bin zu gehen. Zwei Stunden später in einer Bar in Bandeira bei einer Empanada das gleiche Spiel. Er kommt, ich gehe.
Kurz vor Dornelas übernimmt Gorazd die Führung. Er ist nach dem Einlaufen immer sehr viel schneller unterwegs als ich mit meinem halblahmen linken Fußzeh. Wir freuen uns beide auf eine weitere Einkehr dort. Leider wird unsere Hoffnung enttäuscht. Die dortige Herberge, in der es einen Kaffee hätte geben können, hat leider wegen Renovierungsarbeiten geschlossen. Also weiter. Wir sind nach gut fünfeinhalb Stunden Fußweg beide richtig hungrig und wünschen uns auch mal eine längere Sitzpause.
Eine weitere Stunde später in A Carballeira schließlich ein Hinweisschild auf ein Restaurant. Zum „Meson O Peixeiro“, dem Fischerhaus, sind es nur dreihundert Meter abseits des Weges. Nun ja, der Name des Lokals hört sich für mich als Fisch-Allergikerin nicht gerade vielversprechend an. Aber wo es weit und breit nichts gibt, ist die Hoffnung immer im Gepäck. Also hin!
Gerade richtig zur Mittagszeit, um viertel nach eins, komme wir dort an. Jede Menge Arbeiter verbringen dort ihre Mittagspause. Keine Spur von Pilgern. Touristen selbstverständlich auch nicht. Das Menu del Día bietet keinerlei Fisch an. Es gibt Tomate mit Spargelsalat, Hühnchen mit Patatas und den besten hausgemachten Flan seit Sevilla. Und weil wir nicht alles auf einmal verputzen können, bekommen wir noch ein auslaufsicheres Doggy-Bag mit auf den Weg.
Dann rollen wir steil abwärts nach Ponte Ulla. Mein Fußzeh krampft wieder und ich muss immer wieder eine kurze Pause einlegen. Im Ort unten gönnen wir uns eine Pause. Wir sind mittlerweile acht Stunden unterwegs. Aber eine Übernachtung in Ponte Ulla kommt nicht in Frage, weil wir nicht wieder eine so volle Herberge erleben möchten. Und außerdem wünschen wir uns für den nächsten Tag einen kurzen Zieleinlauf nach Santiago. Da es in dem etwa vier Kilometer entfernten Outeiro weder eine Bar noch einen Laden gibt, rechnen wir mit einer ruhigen Nacht dort. Für die meisten dürfte die Etappe in Ponte Ulla enden, zumal es danach wieder steil bergauf geht.
Einträchtig auf der Bank sitzend, lassen wir die vergangenen siebenunddreißig Tage Revue passieren. Allmählich mischt sich unter die Freude der baldigen Ankunft auch Trauer. In zwei Tagen werden wir uns trennen. Ich kann gar nicht sagen, dass wir uns besonders gut kennengelernt hätten auf diesem Weg. Jeder hing ja tagsüber seinen eigenen Gedanken nach. Und ich weiß genauso wenig, was Gorazd in seinem Camino-Gepäck hat, wie er eine Ahnung hat, was mich die ganze Zeit über umtreibt. Wir haben uns über vieles unterhalten, aber nie darüber, was uns wirklich auf den Weg gebracht hat.
Den anstrengenden Aufstieg und das letzte Wegstück bis nach Outeiro vertreiben wir uns wieder mit Videos, die Gorazd über seinen Selfie-Stick auslöst und haben damit so viel Spaß wie eh und je. So schaffen wir es ganz gut bis Outeiro. Ich bin völlig aus dem Häuschen, als ich realisiere, wo wir dort gelandet sind. Der Ort mit seinem Santiago-Kirchlein und der rundum verglasten Herberge mit atemberaubenden Talblick hat es mir vor vier Jahren schon angetan.
Unser Plan geht auf. Außer uns übernachtet heute nur die Koreanerin, die wir zum ersten Mal in Ourense getroffen hatten. Ich kann hier heute also ganz in Ruhe meine Wäsche durchwaschen, und wir werden eine ruhige Nacht haben. Irgendwo hatte ich gelesen, dass der Hospitalero der staatlichen Herberge hier manchmal Bestellungen sammelt und ins Dorf hinunter fährt, um ein paar Sachen für die Pilger zu kaufen. Das Personal wechselt aber. Und der nicht mehr ganz junge Mensch, der uns hier an der Rezeption gegenüber sitzt, beschäftigt sich mehr mit seinem Handy, als dass er sich in irgendeiner Weise für seine Gäste interessiert. Es wirkt fast ein wenig so, als würde er hier eine Strafe absitzen.
Nun ja, zu Essen haben wir. Auf der Suche nach Getränken machen wir ein nahe gelegenes Landhotel „Casa Beatnik – Country House“ ausfindig. Bis dorthin läuft man etwa eine Viertelstunde den Berg hinunter. Ich rufe an. Sie haben zu, der Wirt erklärt sich aber bereit, uns auszuhelfen. Als wir dort ankommen, stellt sich die Casa Beatnik als Nobelschuppen heraus. Der Betreiber ist Galizier, hat aber lange in den USA gelebt. Er hat das Hotel gemeinsam mit seinem Bruder erst vor zwei Wochen eröffnet. Hier ist alles vom Feinsten. Die Suiten kosten 320 Euro pro Nacht. Es gibt regelmäßig Yogakurse. Das Restaurant mit feiner Speisekarte hat gerade geschlossen und wir bekommen 29 Euro abgeknöpft für ein Flasche Wasser, 2 kleine Bier, 2 kleine Kas. Gorazd ist sauer und ich fühle mich ein bisschen schuldig, weil ich genau weiß, dass er in meinem Beisein keinen Aufstand machen wollte.
Wir machen uns mit unserem wertvollen Schatz schnell auf den Weg und reden nicht mehr darüber. Ist auch Wurscht. Morgen kommen wir in Santiago an, und das ist alles, was zählt.
Bin sehr gern ein Stück mitgelaufen
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