Spuren

Wer kennt sie nicht, die beinahe kindliche Freude beim Eintauchen der eigenen Füße in eine frisch gefallene Schneedecke? Als Kinder haben wir im Winter immer einen Wettbewerb daraus gemacht, wessen Schuhabdruck zuerst den Schnee ziert, wir haben gemessen, wer die größeren oder die kantigsten Abdrücke hinterlassen kann, wessen Schuhprofil am schönsten ist.

Noch heute schaue ich mich forschend nach meinen eigenen Spuren im Schnee um und deute sie nach der Größe der Schritte, und danach, wie sie in den Schnee einsinken. Ich versuche mich in die Vorstellung einer Fremden zu versetzen, die anhand dieser Fußspur zu ergründen versucht, wer denn da wohl gegangen ist und in welcher Stimmung. Und manchmal bin ich ganz verwundert über das, was da sichtbar wird: manchmal ein schwerer, schleppender Schritt. Zuweilen ein forsches Vorwärtsschreiten. Und ganz häufig überrascht mich einfach die Länge der Strecke, die ich zurückgelegt habe.

Dieses Umschauen gleicht einem Vergewissern darüber, dass ich existiere. Dass ich tatsächlich auf dieser Welt unterwegs bin. So oft lebe ich einfach unbewusst dahin. Aber eine solche Spur macht Gelebtes sichtbar und legt ein Zeugnis von meinem Dasein und meiner Bewegung ab. Es hinterlässt einen Rhythmus, je nachdem in welcher Stimmung und körperlichen Verfassung ich mich fühle.

Auf dem Camino de Santiago haben Fußspuren für mich auch eine wichtige Rolle gespielt. Weniger die eigenen als die anderer Pilger. Sie wurden wichtig, wenn ich mich verloren hatte, wenn ich plötzlich allein irgendwo stand und kein gelber Pfeil mir den Weg wies. Oder wenn der Weg, wie das auf dem Camino Primitivo so manches Mal vorkommt, plötzlich völlig verwachsen ist und damit schlicht gar nicht mehr vorhanden zu sein schien. Dann waren mir die Spuren von Wanderschuhen die beste Orientierungshilfe. Und ich spüre noch heute Zufriedenheit darüber, dass meine Spur anderen möglicherweise auch eine Orientierung geben konnte.

Jedes Mal, wenn ich auf dem Pilgerweg meine Aufmerksamkeit bewusst auf das Knirschen meiner Schuhe richte, erlebe ich das innere Glücksgefühl eines Kindes, das sich zum allerersten Mal auf den kurzen Beinchen hält und sich dadurch die Welt erobern kann. Auf einmal erhält es eine neue Perspektive und einen größeren Wirkungskreis. Auf einen Schritt folgt der nächste, und das erfordert Mut und Vertrauen. Das aufrechte Gehen ist wohl die größte Errungenschaft, die wir als Menschen erwerben, und tief in unserem Wesen wissen wir, dass ein Schritt ein Akt unerschütterlichen Vertrauens ist, wie ich es an anderer Stelle einmal ausgedrückt habe.

Dass so viele Menschen auf dem Pilgerweg schon vor mir gegangen sind und ihre Spuren hinterlassen haben, hat mich beim Gehen immer tief berührt. Die meisten dieser Spuren waren nicht mehr sichtbar. Und dennoch: Auf eine Weise konnte ich sie wahrnehmen. Genauso, wie mein Fußabdruck für immer auf dem Camino eingeprägt ist, so ist er das auch auf meiner Joggingrunde, die ich seit inzwischen siebzehn Jahren etwa dreimal die Woche drehe. Ich kenne immer noch nicht alle Pfützen, wie ich heute früh feststellen musste, als ich unter der geschlossenen Schneedecke eingebrochen bin. Aber das nur am Rande.

Ich wünschte, ich wäre mir in meinem Alltag auch sehr viel öfter darüber bewusst, dass ich bei allem, was ich tue, Spuren hinterlasse. Das ging mir durch den Kopf, als die Müllabfuhr den Plastikmüll abholte, während ich nach meiner Laufrunde meine Dehnübungen im Hof machte. Unglaublich, was da in zwei Wochen zusammenkommt! Ich bin keine, die in dieser Hinsicht völlig unachtsam einkaufen geht. Ich hab in der Regel immer meine eigenen Obst- und Gemüsenetze dabei, ich kaufe Gemüse auf dem Markt und vermeide jede Art von Fertigmenüs. Ich benutze Seife für die Körper- und Haarpflege, keine Duschgels oder Shampoos. Und trotzdem. Es ist einfach immer noch zuviel Müll. Da gibt es Handlungsbedarf und ein Versuchsprojekt für die Fastenzeit: jede Art von überflüssigem Verpackungsmüll vermeiden. Je mehr ich darüber nachdenke, desto besser gefällt mir die Idee.

Zurück zu den Fußspuren. Während ich am Schreibtisch sitze, fängt es draußen an zu schneien. Meine Fußspuren auf der Joggingrunde werden wohl bald überdeckt sein. Ich muss lächeln, weil ich weiß, dass sie dennoch da sind. Unauslöschbar.

5 Kommentare

  1. …ja, so ist es….und ich denke manchmal daran, dass alle Töne, die wir machen, sich als Wellen irgendwo fortsetzen, sich überlagern, auslöschen und verstärken…und nichts geht wirklich verloren…

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